Das Gespräch zum Nachschauen und Nachhören
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Im geschichtsträchtigen Gebäude im Herzen von Steffisburg erwartet die Zuhörer:innen an diesem nebligen Herbstabend eine spannungsreiche Lesung mit einem überraschendem Ende. Es ist der 8. November und Andres Bruetsch, Autor, Regisseur, Kameramann sowie ehemaliger Gastdozent für «Storytelling» an der HSLU, stellt sein neustes Buch «Sein Name Pejdr Vuolp» vor.
Andres Bruetsch und Corinna Jäger-Trees, Literaturwissenschaftlerin und Moderatorin des heutigen Anlasses, haben sich bereits im Saal eingefunden. Durch die noch geöffnete Saaltür strömt der Geruch von Pizza und Klänge von heiteren Gesprächen, und nach und nach füllen sich die Sitzplätze mit zufriedenen Gästen. Zwischen den alten, dicken Mauern des Offenen Höchhus verbreitet sich eine geheimnisumwitterte Atmosphäre – passend zur Geschichte der Protagonistin aus dem Roman.
Lina ist eine 26-jährige Frau, die in Budapest in einem bescheidenen Zuhause und prekären Familienverhältnissen aufwächst. Eingepfercht zwischen ihrer emotional distanzierten Mutter Eva und ihrem cholerischen, alkoholabhängigen Vater Bela, findet die stille Lina eine Zuflucht im Zeichnen. Durch ihre Skizzen verarbeitet und drückt Lina das aus, was sie den Menschen aus ihrem Umfeld mit ihrer Stimme nicht zu vermitteln vermag. Mit ihrem Tagebuch zieht sie sich zurück, weg vom ständig lärmenden Fernseher und den lauten Konflikten. Eines Tages bringt Lina in Erfahrung, dass ihr leiblicher Vater irgendwo noch lebt – und reist mit ihrem Motorrad ins Engadin, um ihn zu suchen. Dabei findet sie weit mehr, als sie es sich je hätte ausdenken können. Alles dreht sich um die Frage: «Wie geht der Mensch mit Lügengeschichten um?».
«Die Kunst des Weglassens»
Bereits früh fällt auf, dass Andres Bruetsch kaum Beschreibungen verwendet. Abgesehen von ein paar groben Körpermerkmalen wissen wir nicht, wie die Charaktere aussehen. Diesen bewussten Entscheid nennt der Autor auch «Die Kunst des Weglassens». Lina wird als fein und leise porträtiert, ihr fällt es schwer mit anderen zu sprechen, bei schwierigen Themen versagt ihre Stimme. Mutter und (vermeintlicher) Vater hingegen kommen lieblos und forsch daher, was sich in ihren Verhaltensweisen und dem Sprachgebrauch widerspiegelt.
Wir lernen die Charaktere auf persönlicher Ebene als stille Beobachter kennen. Dadurch gelingt es Andres Bruetsch unsere Fantasie anzuregen und uns das Gefühl zu geben, die Charaktere stünden mit uns im Raum. Die dicke Luft zwischen den einzelnen Familienmitgliedern, die unterdrückte Wut im Inneren von Lina, wird nahezu spürbar. So begeben wir uns gemeinsam auf eine aufwühlende und von Intrigen durchzogene Reise; der existenziellen Suche nach Wahrheit.
«For sale: Baby shoes, never worn»
Anhand der kürzesten Geschichte der Welt, damals verfasst von Ernest Hemingway, verdeutlicht Andres Bruetsch gekonnt den Kern des «Storytelling». Kurz: Es geht darum, Emotionen auszulösen. Als hervorragender Geschichtenerzähler mit angenehmer Stimme führt Andres Bruetsch die Zuhörer:innen durch die emotionalen Höhen und Tiefen der Lesung, kreiert mit einfachen aber gehaltvollen Sätzen eine tiefgründige, nachdenklich stimmende Atmosphäre und dosiert Spannung und Entspannung in genau den richtigen Portionen.
Als krönenden Abschluss eines gelungenen Abends kommen wir in den Genuss eines Exkurses in persönliche Anekdoten von Andres Bruetsch – welche mindestens gleich viele schier unglaubliche Zufälle beinhalten, und die Verbundenheit der Dinge verbildlichen, wie die Geschichte von Lina.